Prima Vista
Vor zwanzig Jahren sah ich sie zum ersten Mal, diese
Bände, die für mich in der Geschichte des Lesens
ein neues Kapitel aufschlagen sollten. Das vornehme, zurückhaltende
Grau, in das sie eingeschlagen waren, erweckte meine Neugier.
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, stand
auf jedem der Buchrücken, gefolgt von einer Zahl. Eins
bis dreizehn. Was war das für einer, der sich da so beharrlich
auf die Suche machte, und was für ein Geheimnis barg
diese Zeit? Proust, sagte mein Kommilitone, der Besitzer der
Bände, lakonisch und ein wenig gännerhaft. Und auf
meine Frage hin, mit dezent verhohlenem Stolz: ja, die habe
er gelesen. Alle. Ich griff nach einem der Bände, entdeckte
unter dem Grau des Schutzumschlages rohweißes Halbleinen
- nicht grau, wie die 20 Bände Brecht, die ich zwar besaß,
aber nur in Auszügen des Er-lesens wert befunden hatte
- und stieß auf den Untertitel "Im Schatten junger Mädchenblüte".
Meine Phantasie, zum ersten Mal mit einem Springquell des
Proustschen Metaphernstromes konfrontiert, biß sofort
an, und aus dem Untertitel wurde unversehens eine - bisher
noch meine - Novelle. Junge Mädchenblüte - ich stellte
mir einen blühenden Frühlingsstrauch vor - Forsythien
vielleicht oder Goldregen - merkwürdigerweise war die
Mädchenblüte in meinem Kopf in warmes Gelb getaucht.
Daß Proust sie eher mit der jungfräulichen Farbe
Weiß konnotiert, erfuhr ich erst ein wenig später,
und da hätte ich mich, schon tief in seinem Strom schwimmend,
über jede andere Farbgebung gewundert. - Im Schatten
dieser Mädchenblüte läßt sich trefflich
ausruhen, so assoziierte ich weiter, Schutz vor der manchmal
schon unbarmherzig sengenden Frühlingssonne finden. Aber
ein Schatten ist auch etwas, was unser Leben über-schatten
kann. Ist auch Symbol des Makels und der Trauer. Wie, wenn
dieser Suchende nach der verlorenen Zeit gegen solche Trauer
ankämpfen müßte, wenn diese Trauer Ursache
für den Verlust dieser Zeit gewesen wäre? Süße
und Melancholie tanzten für mich auf dem Seil dieses
Untertitels einen schwerelos anmutigen Pas de Deux - ohne
Netz und doppelten Boden, nach beiden Seiten dem Absturz zugeneigt.
Ich würde mich, das war mir in diesem Augenblick gewiß,
in diesen Schatten junger Mädchenblüte begeben,
das Geheimnis dieser menschlichen Botanik studieren müssen.
Ich griff nach einem weiteren Band - es war "Die Welt der
Guermantes" - und ich verfiel augenblicklich jenem Zauber
der Namen, den Proust nicht müde wird zu entfachen -
und nicht müde wird zu beschreiben. "Die Namen" wollte
er sein Erinnerungswerk einmal nennen; ein Unterkapitel im
zweiten Band zeugt noch von diesem Plan. Namen - seien es
die von Orten oder von Personen - sind die ersten und die
letzten Zufluchtsstätten der Träume. Steht ihre
pure Stofflichkeit vor der Kenntnisnahme ihres Trägers,
so erzeugen sie ein merkwürdig unbestimmtes Bild, das
sich aus ihrem Klang - sei er lebhaft, hell oder dumpf - in
eine Tönung färbt, aus der die Einzelheiten nur
schemenhaft durchblitzen - analog dem Geheimnis des Monochromen.
Und wenn man ihre Träger sattsam - manchmal zu sattsam
- kennt und zu vergessen drängt, dann bleibt zuletzt
doch ihr Name übrig, der die ganze Restsüße
- oder Resttrauer - des Anfangs in sich vereinigt. "Guermantes"
- für Marcel Proust, oder genauer gesagt, für seinen
jungen Ich-Erzähler, ist dieser Name "immer vom Geheimnis
merowingischen Zaubers umhüllt und wie im Abendrot jenes
orangefarbenen Lichtes gebadet, das der Silbe 'antes' entströmt."
Auch ich, noch ahnungslos, empfand damals etwas Abendliches
in diesem Namen - etwas, was dem Morgenlicht der "jungen Mädchenblüte"
hart kontrastierte.
Wenig später befand ich mich,
meine Neugier heischte nach neuer Nahrung, "in Swanns Welt".
Swann - dieser Name nun hatte für mich das Flair tief
nächtlicher Dunkelheit. Ich war mir sicher, daß
ich in seiner Begleitung zu den Zeitzonen jenseits der Mitternacht
vorstoßen würde, wo der Himmel am schwärzesten
ist und nur in den Salons noch vereinzelt oder verschwenderisch,
je nach Geschmack und Laune der Hausherrin, Kerzenlicht brennt.
Für Prousts Erzähler ist der Name in einer Phase,
in der er ganz in dem Gefühl der Verliebtheit in Swanns
Tochter Gilberte aufgeht, so lange er ihn auch schon kennt,
bei jedem Wieder-Hören Träger eines ganz neuen Klanges.
"Er war mir in Gedanken immer gegenwärtig", notiert er,
"und doch gewöhnte ich mich nicht an ihn. Ich zerlegte
ihn, buchstabierte ihn mir vor, seine Orthographie war stets
ein Quell neuen Staunens für mich. Mit seiner Vertrautheit
hatte er für mich auch seine Unschuld verloren."...
Beim weiteren Nachstöbern stieß
ich auf zwei Namen, denen, aus der biblischen Geschichte bekannt,
bestimmt war, von Anbeginn sprachliches Gefäß für
Schuld zu sein, die also ihre Unschuld bereits vor unvordenklicher
Zeit verloren haben: "Sodom und Gomorrha" heißt Band
7, die strukturale Symmetrieachse des Werkes. Sodom und Gomorrha
... Es sind die Orte der Sünde, sind die Chiffren der
Inversion, Prousts oft verwendetes Synonym für Homosexualität.
Sodom ist das Reich des hinreißenden Monsieur de Charlus,
des virtuosen Grenzgängers zwischen den Welten, Klassen
und Geschlechtern.. Gomorrha aber das Reich Albertines, wie
Gilberte nicht zufällig Trägerin eines androgyn
anmutenden Namens. Albertine wird die große Liebe des
Erzählers - wie ist es dann mäglich, daß sie
zur Seite Gomorrhas wandert, wo männliche Wesen keinen
Ort haben? Ist Alberten "die Gefangene" - ein weiterer Untertitel,
der seiner Vielschichtigkeit wegen neugierig macht? Wo, mit
welchen Fesseln ist Albertine gefangen? Wohin wird sie sich,
als "die Entflohene", wenden, wen wird sie zurücklassen
und in welcher Verfassung? "Die Gefangene" und "Die Entflohene"
- zwei Titel, an deren Rändern sich Dramatik verbirgt.
Jemanden gefangen zu nehmen - so der Ausdruck denn nicht metaphorisch
gemeint sein sollte - ist ein Akt der Gewalt, der Willkür;
dieser Gefangenschaft zu entkommen ebenfalls, symmetrisch
dazu. Verläßt Proust also, gegen Ende seines Werkes,
die in den vorhergehenden Titeln angedeutete Ebene der Kontemplation
zugunsten eines Zugewinns an Aktion? Ein letzter Blick auf
den letzten Untertitel spricht gegen diese Spekulation. Er
lautet "Die wiedergefundene Zeit".
Ich stellte die Bände wieder
in das Regal meines Kommilitonen zurück, seltsam berührt
über die Vielzahl an Fragen, Assoziationen, Spekulationen,
die sich da einem ersten Blick buchstäblich knapp unter
die Oberfläche, zwischen Schutzumschlag und Schutz-losem
Buch entbarg. Was ich noch nicht wußte, ist, daß
diese Erfahrung Prousts schriftstellerische Hingabe an die
Dinge und Personen geradezu symbolisiert. Ihre Wahrheit, ihr
Geheimnis, liegt für ihn nicht hinter den Phänomenen,
sondern genau an ihrer Oberfläche. Oder allenfalls ganz
knapp darunter. Oberfläche ist das Komplexeste, was es
gibt; jegliche Reduktion auf irgendein imaginäres Wesentliches
beraubt die Dinge ihrer schillernden Vielfalt.
Mein Heimweg führte an einem
Buchladen vorbei, wo ich den ersten dieser Bände erstand.
An diesem Abend bin ich früh schlafen gegangen. Ich blätterte
mich, Eva Rechel-Mertens, der Übersetzerin dieses Mammutwerkes,
eine stumm - staunende Reverenz erweisend, über die fast
leeren Umschlagseiten hin zum ersten Kapitel, es hieß
schlicht "Combrai", und las den ersten Satz:
"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen."
Zwie-Licht
"Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen."
Anfangssätze üben auf mich
immer einen eigentümlichen Zauber aus. Sie sind die Schwelle,
über die der Gedanke, der Formwille gehen muß,
um zum Werk zu werden. Und das Bewußtsein ihres Schöpfers
über dieses Schwellendasein ist ihnen eingeschrieben.
Manche dieser Anfgangssätze plustern sich auf, als wären
sie sich ihrer Verantwortung für das Ganze bewußt,
als müßten sie alles, was noch nachfolge, zusammenfassend
vorwegnehmen. Manche schreiten geziert, gefallsüchtig
einher, als wollten sie sagen: Schau mich an, bin ich nicht
allerliebst? Mache ich dir nicht Appetit auf mehr von meiner
Sorte? Manchmal aber klopft einer ganz leise, fast unhörbar
an die Pforten unserer Wahrnehmung, als scheue er vor allzu
großer Aufdringlichkeit zurück, als wolle er uns
unsere Aufmerksamkeit nicht dreist abnötigen. Einen solchen
Anfangssatz zu erhaschen, zählt für mich zu den
Glücksmomenten des Lesens.
"Lange Zeit bin ich früh schlafen
gegangen". Ein Satz von großer Schlichtheit, ganz anders
als die ihm folgenden, einen Großteil des Werkes charakterisierenden
Schachtelsätze, Labyrinthe des Sinnes, in denen den roten
Faden bald verliert, wer sich beim Lesen zerstreuen läßt.
Und doch ein Satz, der in subversiver Demutsgeste die Leitmotive
des Romans verbergend offenlegt. Kurz zuvor hatte ich Goethes
"Wilhelm Meister" gelesen, und auch von ihm war mir der Anfangssatz
haften geblieben. Ein Satz von ähnlicher Lakonik, mit
auf ähnliche Weise versteckter Botschaft. Er lautet:
"Das Schauspiel dauerte sehr lange."
Gemeinsam ist diesen Sätzen der
Verweis auf die sich ausdehnende Zeit, das Spiel mit dem Zeit-Sinn
ihres Erzählers. Was da jeweils von langer Dauer ist,
bindet sich, in raffiniertes Understatement drapiert, an einen
Haupt-Gegenstand des Inhalts und an die Erzählstruktur
zugleich. Bei Wilhelm Meister ist es das Theater, für
den Romanhelden der Inbegriff des besseren Lebens - über
lange - möglicherweise, wie sein geistiger Vater manchmal
im Gewand des auktorialen Erzählers kritisch durchblitzen
läßt - über zu lange Zeit. "Das Schauspiel
dauerte sehr lange" - wenn man diesen Anfangssatz nicht aus
den Fängen der Interpretation läßt, ließe
sich eine komprimierte und unterschwellig kommentierte Zusammenfassung
des Buches aus dieser seiner bescheidenen Stofflichkeit herauspressen.
Prousts Anfangssatz wirkt luftiger
- und doch erweist er sich einem solchen Gewaltakt gegenüber
als sperriger. Unter seiner federleichten Oberfläche
verbirgt er mehr Geheimnisse als sein "klassischer" Kollege.
Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen". Verweist
diese Aussage in die Kindheit? Hat sich da eine - meist von
den Eltern aufgenötigte - Gewohnheit ins Erwachsenenleben
hinübergerettet? Wie lange liegt diese Zeit zurück?
Wie alt ist der, der sich nun offenbar von diesem Brauch von
alters her emanzipiert hat?
Obwohl beide Sätze eine dringliche,
fast schon flehentliche Referenz auf die Dauer aufweisen,
stellt sich nur bei Prousts "Auftakt" wirklich die Frage nach
der Zeit und ihrer Interpunktion. Ein Schauspiel kann vier
oder fünf Stunden währen, um als "lang" empfunden
zu werden; manchmal stellt sich dieses Gefühl auch schon
nach eineinhalb Stunden ein. Es hat einen Anfang und - gottlob!
auch ein Ende, das ist allgemein bekannt und beruhigt das
nachfragende Gemüt. Prousts Satz dagegen läßt
Anfang und Ende "seiner" Zeitspanne buchstäblich im Dunkeln
- so man davon ausgehen möchte, daß der Zeitpunkt
dieses Schlafengehens, so früh er auch angesetzt gewesen
sein mag, doch zumindest die Dämmerung abgewartet haben
wird. (Ende des 19. Jahrhunderts, in dem der Roman spielt,
war die Sommerzeit noch nicht erfunden). So wird aus einem
lichten ein zwie-lichtiger Satz. Das Lichte und das Zwielichtige
aber - das sind die unterschiedlichen Merkmale von Symbol
und Metapher. Im Symbol ist der Scheinwerfer vom Besonderen
aus auf das Höhere Allgemeine gerichtet, dieses steht
im Rampenlicht des Sinnes, der Wahrheit. In der Metapher,
und gar in dem Proustschen Metaphernstrom, gibt es diese Hierarchie
zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Lichtziel
und Lichtquell, Urbild und Abbild, nicht. Hier spiegelt sich
das Heute im Gestern, der Raum in der Zeit, ein Küchenmädchen
in einem Gemälde von Giotto, ein sinistrer Hutmacher
in einer Kirchenskulptur, der Ruf des Lumpensammlers in einer
gregorianischen Strophe, zwei Adlige in zwei kostbaren Orchideen
- und ebenso umgekehrt. Und durch diese Spiegelung, diesen
Sprung von einem Eindruck zum anderen quer durch die Räume,
längs durch die Zeiten, entsteht etwas drittes: das Bild.
Lange Zeit bin ich früh schlafen
gegangen." In der Kindheit des Ich-Erzählers, in Combray,
barg dieser Moment des Schlafengehens die ganze Süße
und die ganze Unzulänglichkeit des Daseins gleichzeitig
in sich. Vor dem Schlafengehen hielt das mütterliche
Füllhorn den Gutenachtkuß für ihn bereit,
ein flüchtiger Hauch des Glücks, ein Augenblick
nur der Erfüllung, der den Tag interpunktiert, in ein
mangelhaftes "noch nicht" und ein desillusionierendes "nicht
mehr" aufspaltet. Doch diese der Nachtseite zugewandte Spanne
des "Nicht mehr" hält die Möglichkeit des Träumens
bereit. Prousts Ich-Erzähler ist ein passionierter Träumer,
einer, der im Traum erlebt, was ihm die Wirklichkeit versagt.
Manchmal versucht er, einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen,
aber wenn das gelingt, ist dieser seines Zaubers beraubt.
"Es ging mir wie denen," schreibt er, "die sich auf die Reise
begeben, um mit eigenen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu
schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit
den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt."
Doch Phantasie und Wirklichkeit sind in der "Suche nach der
verlorenen Zeit" keine säuberlich voneinander getrennten
Bereiche. Es gibt eine flüchtige Berührung zwischen
ihnen, von derselben luftigen Materie wie jener Gutenachtkuß,
der erst von jenem denkwürdigen Augenblick an zur Metapher
des Glückes wird, in dem er einmal versagt bleibt. Es
gibt auch einen Zauber des Augenblicks, wenn dieser Augenblick,
urplötzlich und ungenötigt vom Licht der Vergangenheit
angestrahlt, Gegenwart und etwas anderes, früheres in
eins wird. In diesem Außerkraftsetzen der Zeit - wie
im Traum - ruht das Geheimnis der berühmten "Madeleine".
Die Madeleine und andere Köstlichkeiten
"Das mit der Madeleine" ist in den
abfragbaren Allgemeinbildungsfundus übergegangen. Auch
wer "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" nie aufgeschlagen
hat, dem fällt bei dem Namen Proust fast reflexhaft "das
mit der Madeleine" ein. Eine Literaturwissenschaftlerin hat
"dem mit der Madeleine" gar ein ganzes Buch gewidmet. Ein
kleines Gebäckstück in der Form einer Jakobsmuschel,
eingetaucht in eine Tasse duftenden Lindenblütentees,
ist zur Essenz eines Mammutwerkes geworden. In seinem Geschmack,
seinem Genuß nämlich steigt für den Ich-Erzähler
die ganze Welt der Kindheit wieder auf, und ihn durchströmt
ein unerhörtes Glücksgefühl, dessen Grund mit
dem bloßen Anblick des Sandtörtchens nicht erklärbar
ist. Wenn von einer früheren Vergangenheit nichts mehr
existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der
Dinge, läßt Proust den Ich-Erzähler dieses
beglückende Erlebnis kommentieren, "so werden allein,
zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar,
beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie
irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern,
warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und
in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche
Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen."
Die "schwachen" Sinne sind die Wünschelruten
im Reich der verlorenen Zeit. Der Geruch einer frisch gestärkten
Serviette läßt alle Sommeraufenthalte im Seebad
Balbec in einem Augenblick lebendig werden. Zwei ungleich
behauene Pflastersteine schenken dem darauf sein Gleichgewicht
Suchenden die Erinnerung an den Markusplatz in Venedig. Das
Geräusch eines gegen den Teller schlagenden Löffels
verschafft die Illusion des Geräusches, das der Hammer
eines Bahnarbeiters erzeugt hatte, als der Zug, in dem der
Erzähler seine Reise nach Paris angetreten hatte, dicht
neben einem kleinen Wäldchen hielt. Dem Auge allein aber,
der Königin der Sinne, sind diese plötzlichen und
nicht der Herrschaft des Willens unterliegenden Wiederentdeckungen
versagt. Das Reich des Optischen liegt nahe - zu nahe - am
Herrschaftsbereich des Verstandes, Metaphern wie "einsehen",
"durchblicken" "durchschauen" oder "erhellen" weisen auf diese
enge Nachbarschaft hin. Der pure Anblick jenes kleinen Wäldchens
durch das Zugfenster vermochte das Herz des Erzählers
nicht zu rühren, nicht an die Pforte der Erinnerung zu
klopfen. Eine Augenblicksphotographie, mit einem alle Einzelheiten
erfassenden, aber lustlosen Blick aufgenommen, langweilig
wie eine Lichtbildausstellung - so wertet der Erzähler
selbst seine Wahrnehmung ab. Erst das klopfende Geräusch
des Bahnarbeiters - vielmehr nicht das "Originalgeräusch",
sondern, Tage später, seine Spiegelung im Geräusch
des einen Teller malträtierenden Löffels - schafft
den Bäumen, die das kleine Wäldchen bilden, den
Zugang zur Seele, ihren Eintritt in die Sphäre der wiedergefundenen
Zeit. Eine andere Baumgruppe hingegen, es handelt sich um
die drei Bäume, die der Ich-Erzähler einmal auf
der Fahrt nach Hudimesnil , etwas abseits der Landstraße,
erblickt hat, bleibt für immer unerlöst. Kein Duft
dringt durch das geschlossene Fenster der Kutsche, der dem
Insassen eine Brücke zu einer früheren Zeit schlagen
helfen könnte. Auch das Vogelgezwitscher, im Innern des
Wagens zwar hörbar, aber isoliert bleibend, dem optischen
Eindruck nicht zuzuordnen, hilft nicht weiter. Ebenso bleiben
Tastsinn wie Geruchssinn an der Begegnung unbeteiligt. "Ich
schaute die drei Bäume an, ich sah sie deutlich vor mir,
aber im Geiste spürte ich, daß sie etwas verdeckten,
worüber ich keine Macht besaß", kommentiert der
Ich-Erzähler diesen beiderseits ohnmächtige Trauer
auslösenden Akt des Verfehlens.
Wie anders da jenes frühere Glückserlebnis,
das der Erzähler einem blühenden Weißdornstrauch
verdankt, dessen bittersüßer Mandelduft, verbunden
mit der anmutigen Gebärde des Aufblühens, eine erotisch-kulinarische
Vision erzeugt. Das Bild eines jungen Mädchens im Brautkleid
steigt in seinem Inneren auf, der Duft eines Mandelcremetörtchens
kitzelt seine Nase. Einige Augenblicke später steht ein
junges Mädchen vor dem Weißdornstrauch, und sie
verschmilzt mit dem Duft und der Blütenpracht zugleich.
Zur Hälfte Mädchen, zur Hälfte Blüte -
Mädchenblüte. So ist bei Proust der Zauber von Naturerscheinungen
fast immer auch an Menschen geknüpft, und oft werden
diese Menschen gerade durch ihre Verknüpfung mit dem
Naturschönen zu Objekten erotischen Begehrens. Den drei
Bäumen auf der Fahrt von Balbec nach Hudimesnil bleibt
eine solche Verbindung versagt. Sie wirken w i e ferne Geliebte,
doch keine noch so ferne Geliebte ist bereit, die Patenschaft
für sie zu übernehmen, ihrem Schattendasein Leben
einzuhauchen. So bleiben sie denn zwar Gegenstände der
Melancholie, werden aber nicht zu Gegenständen der Kontemplation.
Kontemplation - das heißt, wörtlich übersetzt,
Zusammenschau. Diese Zusammenschau ist der Schlüssel
ins Reich der wiedergefundenen Zeit, sie ist es, die die lineare,
die chronometrische Zeit außer Kraft setzt. Das einzelne
Ereignis hingegen, das, was sich einer solchen Zusammenschau
verweigert, ist der linearen Zeit und ihrer Vergänglichkeit
ausgesetzt. Es verwelkt wie eine Pflanze, die man aus ihrem
Humus herausreißt und nicht begießt. "Die Wahrheit
beginnt erst in dem Augenblick", schreibt Proust, "in dem
der Schriftsteller zwei verschiedene Objekte nimmt, die Beziehung
zwischen ihnen herstellt, welche - in der Welt der Kunst -
dem einmaligen Kausalnexus in der Welt der Wissenschaft entspricht,
und sie in die unerläßlichen Ringe eines schönen
Stils faßt." So kann, auf einer Fahrt des Ich-Erzählers
nach Tansonville, ein großer, weißer Birnbaum
lächelnd seine im Winde konvulsivisch flatternden Blüten
der Sonne entgegenstrecken, weil eine Hure, die mit ihrem
Liebhaber an ihm vorüberspaziert, seiner Einsamkeit ein
Ende macht, und jene Hure wiederum wird von seinem Glanz,
seinem märchenhaften Schimmer der Unschuld angestrahlt.
Nur unsere drei Bäume heben vergebens ihre Arme; sie
verharren wie ihr Betrachter im Zustand ohnmächtiger
Trauer.
Die Musik, die Sie heute abend hören,
schreibt sich von diesen drei Bäumen und ihrer ohnmächtigen
Trauer her. Die kleine Episode, deren Zeitspanne von ihrem
ersten Anblick bis zu ihrem endgültigen Verschwinden
reicht - in Auszügen ist sie unserem Programmblatt zu
entnehmen - sie ist der Inspirationsfundus für Reinhard
Kargers Miniaturen. So gibt es denn auch für diese drei
Bäume eine Art später Erlösung.
Metamorphose eines Küchenmädchens oder
Das Leben ist anderswo
Eine meiner Lieblingspersonen aus
der Suche nach der verlorenen Zeit ist eine kleine Episodenfigur
- eine "Wurze", wie man sie im Theaterjargon etwas abschätzig
nennen würde.
Es ist ein Küchenmädchen,
namenlos geblieben wie ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen,
deren keine länger als höchstens zwei Jahre im Dienst
der Familie blieb. Dieser rasche Wechsel ist, ohne daß
der Erzähler das so deutlich ausspricht, sicherlich Francoise
anzulasten, der Regentin in Haushalt und Küche, eine
überaus plastische, überaus derbe Satyrfigur, fleischgewordenes
Kontrastprogramm zum Defilee der Dekadenten, Empfindsamen
und Effeminierten in den Salons der Provinz und später
der Hauptstadt, wohin sie die Herrschaft begleiten wird. Francoise
ist eine Person bäuerlicher Herkunft, in der äußerste
Feinfühligkeit und abgrundtiefe Grausamkeit einen stetigen
Kampf ausfechten, ohne daß jemals ein Unentschieden
dabei herauskäme. Ihr Boeuf en Gelee ist Legende, ihr
Poulet ein Gedicht, ihr Spargelrezept ein Quell des Entzückens.
Doch gerade mit dem, was ihre Brotgeber in andächtige
Begeisterung versetzt, quält sie ihre Untergebenen bisweilen
bis zum äußersten, weit über die jeweilige
Schmerzgrenze hinaus, wie wir gleich hören werden.
Die Episode jenes Küchenmädchens
fällt in das Jahr, "in dem wir so oft Spargel aßen",
wie der Erzähler erinnert. Die Spargelsaison dauert vom
21. April bis zum 21. Juni, bei uns wie in Frankreich, heute
wie vor 100 Jahren - auch, wenn es dank globaler Handelsvernetzungen
heutzutage möglich ist, das ganze Jahr über Spargel
zu bekommen - im Herbst aus Südafrika, im Winter aus
Chile, im Februar schon aus Griechenland oder der Türkei.
Aber wer will das schon - gewichtiger Bestandteil der Kostbarkeit
dieses begehrten Stengels ist genau seine saisonale Bedingtheit,
die Vorfreude auf den Erststich und das leise Bedauern darüber,
daß seine Zeit schon wieder verstrichen ist. Wie habe
ich den Erzähler um sein Privilegium, in diesen drei
Monaten beinahe täglich Spargel serviert zu bekommen,
beneidet! Und wie um die Bilder, in welchen er dem köstlichen
Gemüse ein Denkmal setzt!
"Besonders die Spargel hatten es mir
angetan, die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und
deren in Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem
anderen Ende zu - das noch Spuren des nährenden Ackerbodens
trug - lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies,
die nichts Irdisches hatten. Es schien mir, daß diese
himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen
Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in
Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem eßbaren
Fleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der
zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen
von Blau jene kostbare Substanz verrieten, die ich noch die
ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte,
in den nach Art Shakespearescher Feenkomödien gleichzeitig
poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaße
aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr
in ein Duftgefäß umschufen."
So weit Proust. Eine solche Eloge
hätte - sieht man einmal vom olfaktorischen Gesichtspunkt
ab - kein deutscher Dichter schreiben können - ist doch
hierzulande das optische Ideal des Spargels, im Gegensatz
zu seinem französischen Vetter, ein jungfräuliches
Weiß und gelten doch - zu Unrecht, wie ich meine - schon
leichte Verfärbungen als qualitätsmindernd, dem
deutschen Reinheitsgebot zuwiderlaufend. "Veronika, der Spargel
wächst", haben die Comedian Harmonists in den 20er Jahren
gedichtet, so dem reinweißen Stengel vierstimmig das
Quantum an Zweideutigkeit schenkend, das der deutsche Mutterwitz
ihm einräumt. Bei Proust dagegen wird er zum Feenwesen,
zum göttlichen Geschöpf. Quelle difference!
Aber was hat dies alles mit jenem
Küchenmädchen zu tun, das der Erzähler mit
jener ausschweifend genutzten Spargelsaison verbindet? Nun
- jenes Küchenmädchen hat allabendlich die Unmengen
von Spargel zu schälen, die Francoise ihrer Herrschaft
und deren Gästen serviert. Es ist eine arme, kränkliche
Person im bereits vorgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft,
"verfettet durch ihren gesegneten Zustand bis ins Gesicht
hinauf, bis in die gerade und eckig herabfallenden Wangen",
wie sie der Ich-Erzähler ohne jeden Anflug von Charme
beschreibt." Charles Swann, der Freund des Hauses, der oft
zu Besuch kommt, nennt sie scherzhaft Giottos CARITAS.
Giotto, italienischer Maler im 14.
Jahrhundert, ein Zeitgenosse Dantes, hat in einer Kapelle
in Padua eine Reihe allegorischer Gestalten gemalt, die Tugend
und Laster darstellen. über einer von ihnen, einer Frau,
steht mit großen Buchstaben das Wort CARITAS, das heißt
Liebe. Sie trägt ein grobes, steif fallendes Gewand,
das ihre Figur verbirgt. In ihrer rechten Hand hat sie eine
Schale mit Früchten und Getreideähren. Um den Kopf
trägt sie einen Kranz und ein Feuerkreuz. In der Linken
hält sie ihr eigenes Herz und reicht es Jesus, einer
kleinen Figur ganz oben in der rechten Ecke des Bildes.
Der Ich-Erzähler, dem die Reproduktion
dieses Bildes - ein Geschenk von Swann - von Kindheit an vertraut
ist - wird nicht andächtig gestimmt angesichts der derben
Matrone, und lange Zeit hat er an ihrem Anblick kein Vergnügen.
Sie verkörpere die ihr zugeschriebene Tugend, ohne etwas
davon zu ahnen und ohne daß sich ein Gedanke von Nächstenliebe
jemals auf ihrem kraftvollen und vulgären Antlitz hätte
spiegeln können, kritisiert er. Und wenn sie Gott ihr
Herz in Flammen darbiete, so reiche sie es ihm eigentlich
in der Weise heraus, wie eine Köchin einen Korkenzieher
aus dem Kellerfenster jemandem hinhält, der am Parterrefenster
stehend ihn von ihr haben will. Der Korkenzieher stiftet eine
äußere Analogie zu dem armen Küchenmädchen,
doch der Erzähler findet auch eine innere: ähnlich
wie die CARITAS ihre Bedeutung als etwas äußerliches
vor sich hertrage, so trage sie ihren schweren Bauch, das
Zeichen der Schwangerschaft, ohne daß sich etwas von
Schönheit oder Sinn der Mutterschaft in ihrem Gesicht
spiegele. - Warum sollte sie auch, denkt der geneigte Leser,
ist diese Schwangerschaft doch höchst unerwünschtes
Resultat einer flüchtigen und im Sande verlaufenen Beziehung
und ein uneheliches Kind stetiges Hindernis im Daseinskampf
eines solchermaßen unterprivilegierten Wesens. - Und
doch führt diese Zusammenschau, so weltfremd sie zunächst
scheint, den Erzähler auf eine wichtige Erkenntnis: Das
Symbol auf den Fresken Giottos ist eben nicht als Symbol dargestellt,
sondern als Wirklichkeit, als wirklich gelebt und materiell
gehandhabt. Die wahre Güte muß sich nicht den Gesichtszügen
einbrennen - im Gegenteil: "Wenn ich später im Laufe
meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich
heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe
zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere, positive,
gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen
Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl,
kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden
zu lesen stand, freilich auch keine Furcht vor der Berührung
mit ihm, kurz, sie trugen die sanftmutlosen Züge, das
sympathielos erhabene Antlitz der wahren Güte zur Schau."
Ein schwangeres, schwerfälliges
Küchenmädchen hat dem Erzähler die wahre Schönheit
der Fresken Giottos offenbart - Bisweilen erhält die
Kunst ihren Glanz aus der Wirklichkeit.
Dreißig Seiten und viele Reflexionen
später - wir befinden uns noch immer in der Spargelzeit
- kommt das Küchenmädchen eines Nachts unter unsäglichen
Qualen nieder. Der Erzähler hört die Verzweiflungsschreie
der Gebärenden, er hört das wütende Gezeter
Francoises, deren Nachtruhe durch das Naturereignis gestört
wird, und ihm wird klar, daß in ihr ein umgekehrt proportionales
Verhältnis von Mitleidsmenge und Entfernung existiert.
"In einer der Nächte", so berichtet er, "die auf die
Niederkunft des Küchenmädchens folgten, wurde diese
von heftigen Koliken befallen; Mama hörte, wie sie jammerte,
stand auf und weckte Francoise, die ganz ohne Mitgefühl
erklärte, all dies Geschrei sei eine Komödie und
das Mädchen wolle sich nur bedienen lassen. Der Arzt,
der solche Anfälle für bedenklich hielt, hatte ein
Lesezeichen in ein medizinisches Buch, das wir besaßen,
an die Stelle gelegt, wo sie beschrieben wurden und wo wir
nachschlagen sollten, um einen Hinweis für eine erste
Hilfeleistung zu finden. Meine Mutter schickte Francoise,
um das Buch zu holen, und empfahl ihr, auf das Lesezeichen
achtzugeben. Nach einer Stunde war Francoise noch nicht zurück;
meine Mutter war empört, denn sie glaubte, Francoise
habe sich einfach wieder hingelegt, und trug mir auf, selbst
in der Bibliothek nach dem Werk zu suchen. Dort fand ich Francoise,
die, als sie hatte nachsehen wollen, was an der bezeichneten
Stelle angegeben war, über die klinische Beschreibung
des Anfalles geraten und in hemmungsloses Schluchzen ausgebrochen
war, denn jetzt handelte es sich ja um einen ihr unbekannten
'Fall'. Bei jedem schmerzhaften Symptom, das der Verfasser
in seiner Abhandlung erwähnte, brach sie in Klagerufe
aus wie: 'O Gott, o Gott! Heilige Jungfrau! Ist es denn möglich,
daß der liebe Gott ein armes Menschenkind so leiden
lassen kann? Du lieber Himmel, die Arme!"
Vom Buch weg und ans Krankenlager
der Wöchnerin zitiert, verschwinden die zarten Gefühle
schlagartig, und der alte Sarkasmus kehrt zurück. Selber
Schuld an ihrer Misere sei die da, das müsse ein gottverlassener
Kerl gewesen sein, der die da geschwängert habe, und
ihre Mutter habe schon recht gehabt wenn sie in solchen Fällen
gesagt habe - und jetzt kommt ein Vers, den die Übersetzerin
des Übertragens nicht für würdig gehalten hat.
So will ich es für Sie tun:
"Wer sich in einen Hundearsch verknallt,
dem scheint er eine Rose."
Das ist die Satyrfassung des Generalthemas,
das das ganze Werk durchwebt und durchwirkt: das Thema der
Projektion. Knapper und ironischer hat Proust es nirgends
zusammengefaßt.
Unser Küchenmädchen indes
schält, ungeachtet seiner Niederkunft und seiner Koliken,
noch immer Spargel - bis seine Anfälle, genau durch diese
Tätigkeit hervorgerufen, so schlimm werden, daß
es schließlich gehen muß. Ihrer Allergie und Francoises
Grausamkeit hat der Erzähler die zahlreichen Spargelmahlzeiten,
den häufigen Anblick jener vom Violetten ins Bläuliche
oszilllierenden Wunderwesen zu verdanken. Adieu, Caritas.
Du wirst niemals wiederkehren. Aber in jedem Spargelgericht,
das dein Erzähler zu sich nehmen wird - und das sind
viele, wenn auch nie mehr so köstliche, wie sie Francoise
aus den von dir unter Qualen geschälten Stangen zubereitet
hat - wird deine kleine Geschichte, dein banales sprachloses
Leiden aus dem Duft des Gemüses aufsteigen.