Reinhard Karger
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  DER KOMPONIST
  - ein Fossil im Medienzeitalter  
     
 


DER KOMPONIST -
Prototyp des versponnen, wirklichkeitsfernen, nur seiner Kunst lebenden Künstlers. Belächelt ob seiner Unfähigkeit, mit dem Alltag umzugehen, bewundert ob seines direkten Drahtes zu den Musen und zur Unsterblichkeit - dieses Bild beherrscht nach wie vor die öffentliche Meinung und die meisten Komponistenhirne. In jedem zeitgenössischen Komponisten steckt ein kleiner Beethoven, der sich in heldenhaftem Kampf zur ureigenen, unverwechselbaren Kunstsprache durchringen will.

Parallel zur Herausbildung der Vorstellung vom »autonomen Kunstwerk«, die sich vom späten 18. bis hinein ins 20.Jahrhundert radikalisierte, bezog sich dieser Kampf immer ausschließlicher auf die immanente Weiterentwicklung des musikalischen Materials, DER KOMPONIST war immer mehr nur sich selbst verantwortlich, er koppelte sich ab von den sozialen Bindungen, die ihm in früheren Zeiten Sicherheit und Sinn gegeben hatten (Kirche, Fürstenhöfe). Diese Vorstellung, musikalischer Fortschritt sei nur durch die Weiterentwicklung innermusikalischer Kategorien erzielbar, die sich durch die zwei Jahrhunderte des bürgerlichen Zeitalters hindurch präzisierte und die noch 1958 bei Adorno den Maßstab lieferte für seine Polemik gegen Strawinsky und seine Bevorzugung Schönbergs (siehe »Philosophie der neuen Musik« von Th. W Adorno), steckt jedoch heute in einer tiefen Krise, und mit ihr DER KOMPONIST, sein Berufsbild, sein Selbstverständnis. Sein eifriges Forschen nach neuen Klangfarben, Obertönen, Mikrointervallen, komplexen Rhythmen und ungewöhnlichen formalen Lösungen wird unheilvoll kontrastiert durch das Wetterleuchten der globalen sozialen und ökologischen Katastrophen, das allabendlich mit den Fernsehnachrichten in seine Stube flimmert. Schmerzhaft stellt sich ihm die Frage nach dem Sinn seines stetigen, differenzierten Bemühens.

DER KOMPONIST als geistiges Kind des bürgerlichen Kunstbegriffs (der sich zur Zeit Hölderlins und Beethovens - beide sind 1770 geboren
- herausbildete und der damals die revolutionäre Sprengkraft der Behauptung der Freiheit des Individuums besaß) sieht sich in einer Welt, in der seine Produkte fundamental anders rezipiert werden als zu der Zeit der Entstehung seines Selbstverständnisses. Der Beethovensche Anspruch, für alle Menschen und für alle Zeiten zu komponieren, ist heute an den Rand der Lächerlichkeit geraten. Die »originären« Kunstsprachen der vielen Komponisten in der heutigen Zeit degenerieren im Medienzeitalter zu bloßen Privatphilosophien, »provokative« Neuerungen im musikalischen Material haben jede Sprengkraft verloren und werden spielend als noch eine Farbe ins bunte Kaleidoskop der Freizeitkultur integriert. Der humanistische Anspruch, Menschen zu bewegen und zu bilden, verschwindet immer mehr hinter der Forderung, Menschen zu unterhalten, die »originären« Schöpfungen der Komponisten - der toten wie der lebenden - sind längst zur Ware mit kalkulierbarem Marktwert verkommen.

So sieht sich DER KOMPONIST in einer Schwellensituation: Ohnmächtig sieht er zu, wie seine Schöpfungen entweder ignoriert oder zu kosmetischen Tupfern umgewandelt werden, die dem immer mehr von Großunternehmen gesponsorten Kulturbetrieb seine Toleranz und Offenheit gegenüber allem Neuen beweisen sollen. Die Vermarktungsmechanismen von Musik sind von ganz anderen Geistern inspiriert als der Prozeß des Komponierens. Nimmt DER KOMPONIST diese Beobachtungen ernst und stellt sich der existentiellen Bedrohung seines Handwerks, anstatt weiterhin blindlings Werk für Werk sein »Oeuvre« zu vervollständigen, so bleibt ihm zunächst nur: Sprachlosigkeit.

All die über Jahrhunderte angereicherten differenzierten Fähigkeiten und Kenntnisse ihres Sinns beraubt zu sehen, kommt einem Tode gleich, es ist ein Verlust der Sprache. Diesen Verlust begleitet ein tiefes Mißtrauen gegen die erlernten Kunstgriffe und Effekte: kalkulierte Expressivität, elegante Instrumentation, raffinierte Gestaltbildung scheinen nicht mehr tauglich, um Wahrheit zu vermitteln.

Die Not der Sprachlosigkeit wird zur Notwendigkeit, sich Fragestellungen zuzuwenden, die nicht mehr nur innermusikalisch lösbar sind; die sozialen Bedingungen des eigenen Tuns zu beobachten, die Gestaltungswut des sich selbst verwirklichenden Individuums zurückzunehmen und die Zusammenhänge ins Blickfeld zu rücken, in denen das eigene Leben und Werk steht.

Warum macht wer Musik?
Was erzählen Menschen über sich, wenn sie singen?
Wie müßte eine Musik beschaffen sein, die sich strukturell den Gesetzen der Vermarktung entzieht; wie könnten ihre Entstehungsbedingungen aussehen?

Solche Fragen gehören heute mit zum Arbeitsfeld des Komponisten, die Aufmerksamkeit verlagert sich von der Ebene der Organisation der musikalischen Bausteine zur Ebene der Zusammenhänge, in denen musikalische Phänomene entstehen und wirken. Der Musikbegriff erweitert sich in das soziale Feld hinein, und bindet sich dadurch wieder an die Menschen an, DER KOMPONIST wird vom utopischen Vordenker zur Hebamme. Jeder Mensch ist aufgefordert, am sozialen Geflecht musikalisch mitzugestalten, in allen Lebensbereichen klingende und nicht-klingende Musik zu hören und zu machen - Musik der Sprache, Musik des Wirtschaftskreislaufs, Musik der Arbeit, Musik der häuslichen Sphäre, Musik des Denkens, Musik der Stille... -, das ganze Leben kann als das Feld der Kunst begriffen und so differenziert gestaltet werden wie früher die Klänge und Rhythmen. Durch diese Anbindung an das reale Leben könnten auch klingende Phänomene (traditionellerweise »Musik« genannt) wieder einen authentischen Sinn bekommen als Kommunikationsmedium zwischen gleichberechtigten Menschen. Die Rolle des Komponisten wandelt sich in einem solchen Musikverständnis zu der des Beobachters und Anregers der kreativen Prozesse im sozialen Feld; er muß Abschied nehmen von der Vorstellung, er könne sich alleine zu immer neuen »Meisterwerken« durchkämpfen und dadurch Meilensteine setzen.

»Diesen Kuß der ganzen Welt« - das Pathos der Beethoven'schen Umarmungsgeste ist nach wie vor verführerisch, die Vorstellung für den ganzen Planeten und für die Ewigkeit zu schreiben, ist Balsam fürs Ego, doch wenn DER KOMPONIST stirbt, wenn er es schafft, den Tod der eigenen Sprache anzunehmen und sich auf die Suche nach einem neuen Selbstverständnis macht, wird er vielleicht überleben können aber er wird verwandelt sein, er wird nicht mehr DER KOMPONIST sein.

Reinhard Karger
Kassel, 15. Dezember 1988

 
 

  
 

 
     
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